Oktober 2016: Wertschätzung
Geschrieben von exakt.admin |

Als ich in den 80er Jahren mein Volontariat im Schwäbischen machte, hatte ich meinen Vertrag natürlich genau gelesen: 6 Monate Probezeit. Als das Ende des halben Jahres immer näher rückte, wurde ich nervös. Wann sprach mich endlich jemand an: hop oder top?! Weil nichts passierte, fragte ich meinen Ausbildungsleiter: „Können Sie mir schon etwas sagen? Habe ich die Probezeit bestanden?“ Seinen Blick vergesse ich nie: „Haben Sie irgendwas gehört?“ „Nein!“ „Na bitte“, sagte er, „Nix gschwätzt isch Lob gnuag.“ So schnell lernte ich Schwäbisch und die dazu gehörende Lebensart.

Wertschätzung ist das Gegenteil: Verbale und non-verbale Kommunikation, die Respekt und Anerkennung ausdrücken. Nichts zu sagen kann genau so missachtend sein wie Mobbing oder offene Schikane. Doch reden wir lieber vom positiven Begriff der Wertschätzung: Für mich auch immer ein Vorgang, der Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen auf Augenhöhe versetzt. Chef mit Mitarbeiter. Mutter mit Kind. Dienstleister mit Kunde. Beamter mit Bürgerin. Politikerin mit Wähler usw. Ich schätze Dich/Sie wert, in dem ich Dich/Sie respektiere, lobe, achte …

Wo beginnt die Wertschätzung und wann verkehrt sie sich ins Gegenteil? Wertschätzung hat für mich auch immer etwas mit imaginären Grenzen zu tun. Diesseits und jenseits stehen für Anerkennung oder Ablehnung. Diese Grenzen können fließend sein – und verlaufen für jeden anders. Der Duden gibt zur Bedeutungsübersicht an: „Ansehen, Achtung; Anerkennung; hohe Einschätzung“. Wie in so vielem geht es um das Gleichgewicht: Übertriebenes oder gar unberechtigtes Loben ist keine Wertschätzung, sondern einfach nur falsch. Das führt dann zu Bewerbungen im TV von Kindern, die nur schräge Töne rausbringen, aber von den Eltern bejubelt werden. Wertschätzung ist unabhängig von Leistung. Wertschätzung ist Würdigung der Persönlichkeit. Ohne Wertung und ohne Bedingungen.

Vielleicht ist es fehlende Wertschätzung, die zu Trennungen führt. Im Privatleben und im Business. Wertschätzung – zu wissen, was der andere kann und leistet, was ihn ausmacht, was man an ihm hat und was ohne ihn fehlen würde. Dabei geht Wertschätzung über die Einzeltat und den einzelnen Tag hinaus, sie bemisst das Gesamtbild und drückt darüber ihre Anerkennung aus. Ich frage mich, ob all‘ die Polemiker, Hetzer und Unreflektierten in dieser Zeit zu kurz gekommen sind. Ob das Fass der Wertschätzung einfach leer ist. Hier bringt der berühmte Tropfen das Fass voller Missachtung, fehlender Wertschätzung und Ignoranz zum Überlaufen. Gaben die Pfadfinder früher als Losung „Jeden Tag eine gute Tat“ aus, dann müssten wir heute wohl sagen: Jeden Tag eine Wertschätzung … Bestimmt sollten wir im Umgang mit anderen mehr darüber nachdenken. Und Wertschätzen lernen.

Zurück zum Anfang: Als junge Journalistin dürstete ich nach der Bestätigung, gut zu sein, weitermachen zu dürfen. Für meinen Ausbilder war der Umgang mit Probezeiten nur eine Formalie, pure Routine. Bezeichnend für die unterschiedliche Wahrnehmung von Wertschätzung. Für ihn eine Petitesse, für mich fast schon existenziell. Also dürfte Wertschätzung in der untersten Stufe etwas mit Aufmerksamkeit zu tun haben. Aufmerksam sein, was einen anderen betrifft, für den man zuständig ist. Verantwortung trägt oder für den man einen wichtigen Bezug hat. Vielleicht sogar für ihn wichtiger als für einen selbst. Nun? Wem gilt Ihre Wertschätzung heute?