Von Vorbildern, Obdachlosen – und keinen Steaks
Geschrieben von Ute Kretschmer-Risché | Blog

„Sagen Sie mal, ist Ihre Tochter noch ganz normal? Was haben Sie denn da erzogen?“ Diese erregte Aussage der Ehefrau eines lokalen Unternehmers wurde zum geflügelten Wort in unserer Familie. Warum ich das erzähle? Weil es mich an einen wichtigen Prozess in meiner Entwicklung erinnert. Gerade jetzt, da wir über deutsche Leitwerte reden, über Unternehmensphilosophien ausgelöst durch den VW-Skandal oder durch die Vertrauenskrise zum Beispiel bei FIFA und DFB.

Ich rede oft mit jungen Menschen gerade über Vorbilder: „Wer hat euch geprägt? Zu wem schaut ihr hoch? Wen bewundert ihr?“ Meistens bekomme ich gar keine Antwort, eher Achselzucken, weil es wohl noch nie ein Thema war. Manchmal werden Popstars wie Pink oder Fußballer wie Schweinsteiger genannt. Aber auch die eigenen Eltern. Das war bei mir genauso. Meine Eltern haben mir vieles vorgelebt und sehr vieles mit mir besprochen. Ich komme aus einem einfachen Arbeiterhaushalt, das von der Schichtarbeit meines Vaters geprägt war. Trotzdem wurde bei uns viel Wert auf Bildung, Lesen und Gespräche gelegt.

Meine Eltern lebten mir vor, wie wichtig es ist, Schwächeren zu helfen. Manchmal waren sie wohl überrascht, wie konsequent ich das umsetzte. Wenn meine Mutter erschrak, weil plötzlich ein fremder Mann, sprich ein Obdachloser, bei uns am Küchentisch oder sogar in der Badewanne saß. Aber schnell bekam jeder bei uns etwas zu essen. (Auch wenn es nicht gerade ein Steak war).

Gaggenauer Bürger erinnern sich vielleicht noch an Rudi, den Obdachlosen aus dem Rotenfelser Wald. Den man manchmal mit seinem schwer bepackten Fahrrad herumstreifen sah, auf der Suche nach etwas Essbarem in Mülltonnen. Ich war eine junge Journalistin Mitte der 80er Jahre. Ich fand Rudi, interviewte ihn und die Badischen Neuesten Nachrichten veröffentlichten meinen Artikel wenige Tage vor Weihnachten. Was meinen Sie, wie die Reaktionen ausfielen?

Damals gab es noch kein Facebook, und die Bürger lasen noch viel mehr Tageszeitung. Es gab keine Handys, aber Stammtische und natürlich die Gespräche zwischen Nachbarn und auf dem Marktplatz. An dem Tag, als die Reportage mit einem Foto von Rudi in der Zeitung war, standen die Telefon nicht mehr still. Weder in der Redaktion, noch bei uns zuhause. „Sagen Sie mal, ist Ihre Tochter noch ganz normal? Was haben Sie denn da erzogen?“ Das war der erboste Kommentar einer Unternehmensgattin. Was denn diese Mitleidstour so kurz vor Weihnachten solle. Das sei doch eine Frechheit.

Andere reagierten freundlicher und stellten tütenweise Lebensmittel, Kleidung und Decken vor das Haus, in dem ich mit meinen Eltern in einer Mietwohnung lebte. Ein bisschen so wie heute. Auch in unserer Agentur werden Sachspenden für Flüchtlinge abgegeben. Weil Menschen über die sozialen Medien mitbekommen, dass wir uns engagieren. Noch einmal: Warum ich das hier schreibe? Unternehmenswerte beginnen immer bei Menschen. Wie man sozialisiert wurde, was man erlebt hat, ja, wie man sich engagiert. Deshalb rede ich auch mit jungen Menschen darüber. Wer ist dein Vorbild? Vielleicht wären vor Kurzem noch VW-Manager Winterkorn in Wolfsburg genannt worden oder FIFA-Chef Sepp Blatter.

Wir müssen jetzt darüber reden, was wir jungen Menschen mitgeben. Wie sich unsere Gesellschaft entwickeln soll. Dazu gehört natürlich auch, welche Eigenschaften Chefs und Führungskräfte einbringen müssen, genauso was Mitarbeiter erwarten, aber auch selbst leisten. Fehler im System mögen von einzelnen verursacht sein, werden aber von vielen mitgetragen.

Was meinen Sie? Bitte schreiben Sie mir.

Übrigens: Rudi, der wegen Krankheit, Scheidung, Arbeitslosigkeit und Insolvenz alles verloren hatte, bekam ein neues Zuhause bei einer sehr engagierten Bürgerin.